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Was wird es denn? - Ein Kind - Folge 80

Text zur Podcast-Folge 80, verfasst von Ismahan


„Hey, erwartest du Zwillinge?! Du siehst nämlich aus, als könntest du jeden Moment platzen!“

„Ach was, Zwillinge?! - Jungs oder Mädchen?! - Beides?! Mensch, besser gehts ja nicht!

Das hast du aber super hinbekommen!“ (Mir war gar nicht bewusst, dass ich Zauberkräfte habe).


An diese ersten Reaktionen erinnere ich mich noch heute sehr gut. Zu dieser Zeit war ich mit meinen Zwillingen schwanger. Wo auch immer ich gerade unterwegs war, sobald Personen auf meinen schwangeren Bauch aufmerksam wurden, schien die Frage danach, ob ich Jungs oder Mädchen erwartete, von großer Bedeutung zu sein.


Wieso aber haben wir häufig das dringende Bedürfnis erfahren zu wollen, mit welchen Genitalien Kinder zur Welt kommen? Was motiviert uns dazu, zuallererst nach dem Geschlecht zu fragen?

Welche Vorstellungen und Stereotype von Geschlecht existieren eigentlich?

Bemerken wir, dass uns vorherrschende Geschlechterrollen bereits vor der Geburt prägen und wir diese auf Kinder übertragen?

Berücksichtigen wir dabei, dass wir Kinder, die sich jenseits dieser Zuschreibungen befinden, von Anfang an ausschließen und somit ihr Recht darauf so frei und selbstbestimmt wie möglich heranzuwachsen, missachten?


Genau diesen Fragen widmen sich Magdalena und Ravna Marin Sievers in der neuesten sexOlogisch Podcast Folge:


Sie besprechen gemeinsam das von Ravna verfasste und kürzlich erschienene Buch „Was wird es denn? Ein Kind. und zeigen dabei auf, wie wichtig eine kritische Auseinandersetzung mit bestehenden heteronormativen Vorstellungen von Geschlecht sein kann und warum es sich deshalb lohnt Kinder geschlechtsoffen zu erziehen.




Alles eine Frage der Norm!

Wie stark in unserer Gesellschaft Vorstellungen und Erwartungen von „Weiblichkeit“ und „Männlichkeit“ verinnerlicht sind und dabei fortdauernd an Kinder weitergegeben werden, fiel mir, ebenso wie Ravna, besonders während meiner Schwangerschaft auf:

Als mir aus gynäkologischer Sicht eröffnet wurde, dass in meinem Uterus ein Junge und ein Mädchen heranwachsen würden, hatte plötzlich jede*r genaueste Vorstellungen davon, wie sich die beiden einmal entwickeln würden. Dabei wurde sofort klar: Es gibt klare Erwartungen an Jungen, so wie es ganz klare Erwartungen an Mädchen gibt.


Ob es Kleidung, Spielzeug, Aktivitäten, Charaktereigenschaften oder bestimmte Fähigkeiten sind - was zu einem Geschlecht passt oder nicht passt, ist genau festgelegt.

„Die Welt erschien mir plötzlich voll von blau und rosa gefärbten vergeschlechtlichten Botschaften.“

Nicht selten genug fühlten sich Menschen in meinem Umfeld dazu eingeladen das Aussehen und Verhalten meiner Kinder zu kommentieren und zu bewerten:


„Schaut euch nur dieses hübsche Mädchen an - immer am Malen und Tanzen und so zugewandt.“. „Oh, und guckt einmal, wie großartig er diesen Turm baut. Schon so begabt, typisch Junge!“


Gleichzeitig war es für mich häufig auch überaus belustigend und amüsant, wenn Menschen ganz irritiert und verwirrt davon waren, nicht eindeutig „erkennen“ zu können, um welches Geschlecht es sich bei ihnen handelte. Dann suchten sie krampfhaft nach Merkmalen, wie etwa einem rosa Fleckchen auf einem T-Shirt oder versteckte Glitzerspangen im Haar. Wenigstens etwas Nagellack auf den Fingernägeln oder vielleicht ein Auto irgendwo versteckt in der Hand. Es schien überaus wichtig zu sein, beide Kinder eindeutig einordnen zu können. Gelang es ihnen nicht, fragten sie mich. Gab ich zu bedenken, dass das doch nur die beiden beantworten könnten, ich hierfür die falsche Ansprechperson wäre, erfuhr ich nur noch mehr Irritation und Überforderung.


Zu wenig sind wir uns dessen bewusst in einem gesellschaftlichen Wertesystem (Heteronormativität) aufzuwachsen, das nur zwei Geschlechter - nämlich männlich und weiblich vorsieht und auch nur als solche anerkennt.


Dabei werden an alle Menschen soziale Erwartungen gerichtet, wie sie als Männer und Frauen miteinander leben und agieren sollen.


So werden Menschen gleich nach der Geburt als Mädchen oder Junge eingeteilt. Als Frau und Mann sollen sie dann später einmal mit dem jeweils anderen Geschlecht sexuelle und romantische Beziehungen eingehen. Heterosexualität gilt dementsprechend als natürlich und normal.


Diese Annahme wird durch unsere Vorstellung, dass das Geschlecht biologisch definiert wird, zementiert und zu einer Norm manifestiert: Demnach legt die (westliche) Medizin exakt fest, dass es ausschließlich zwei Geschlechter gibt, die aufgrund körperlich sichtbarer Merkmale eindeutig voneinander unterscheidbar und unveränderbar sind. Entspricht die körperliche Verfasstheit nicht der medizinisch normierten Geschlechterbinarität wird sie gesellschaftlich tabuisiert und noch immer pathologisiert. Körperliche Diversität wird ignoriert und ausradiert.


Diese Einteilung von Geschlecht ist noch immer allgegenwärtig und tief ins uns verankert. So erscheinen sie uns vielleicht deshalb auch als natürlich gegeben.


Was wir jeweils von Geburt an für Kleidung tragen dürfen, womit wir spielen dürfen, welche Interessen und Fähigkeiten wir entwickeln dürfen, die Art wie wir Gefühle ausdrücken und ob wir sie ausdrücken dürfen, wen wir begehren und wen wir lieben dürfen, wer später einmal welchen Beruf mit höherer Wahrscheinlichkeit ausüben wird- all das legen wir anhand unserer Normen und Werte fest. Diese umfassen und beeinflussen somit sämtliche Lebensbereiche unseres Zusammenlebens und schränken uns, wenn auch alle auf unterschiedliche Weise, erheblich ein.


Fallen Kinder und später dann auch Erwachsene aus erwarteter Rolle heraus, löst das nicht nur Irritation und Unverständnis aus, sondern wird häufig mit Ablehnung, Abwertung bis hin zu Sanktionen bestraft.


Menschen, die sich jenseits heteronormativer Geschlechterordnungen verorten, verkörpern Mehrdeutigkeit, Vielfalt und Veränderbarkeit von Geschlecht. Genau das scheint für viele irritierend und überfordernd zu sein.


Vielleicht resultiert auch daraus die „Sorge“, mit der Magdalena und Ravna immer wieder konfrontiert werden, davon auszugehen Kinder mit einer geschlechtsoffenen Haltung zu überfordern: Sie könnten in ihrer Identität verunsichert und verwirrt werden.


Eventuell ist es aber gerade umgekehrt: Nicht Kinder sind überfordert, sondern Erwachsene sind es und wissen häufig nicht, wie sie auf bestimmte Fragen reagieren und antworten sollen. Beginnen wir damit uns für geschlechtsoffene Vielfalt zu öffnen und fallen uns dabei bestehende Strukturen auf, die wir bestenfalls als einschränkend empfinden, kann idealerweise der Wunsch entstehen, vorherrschende Vorstellungen verändern zu wollen. Das kann anstrengend und kräftezehrend sein. Auch Kinder haben zwar schon früh Geschlechtszuschreibungen fest verankert, sind in einer Neubewertung allerdings deutlich flexibler und toleranter: Wenn Ravna beispielsweise gefragt wird, dass es trans* sein doch gar nicht gäbe, so entgegnet Ravna ganz einfach: „Schau mich an, ich existiere!“

Die Vorstellung, dass Kinder ewig lange Erklärungen benötigen, um vermeintlich komplexe Dinge zu verstehen, ist genauso veraltet wie eben jene tradierten Geschlechterrollen, die sich anmaßen wollen, Menschen in ihrer Individualität und Freiheit selbstbestimmt heranzuwachsen, einzuschränken.


Geschlechtervielfalt zulassen! Bitte, Danke.

Das Gefühl und die feste Überzeugung genau zu wissen beispielsweise inter*, trans*, nicht-binär, genderfluid, weiblich, männlich u.a. zu sein, kann sich im Laufe der Zeit in einem Selbsterleben entwickeln (und auch manchmal wieder verändern). Dabei ist dieses Erleben völlig unabhängig von der körperlichen Verfasstheit oder dem Geschlechtsausdruck.

Dass bei der Geburt aufgrund äußerer Genitalien ein Geschlecht zugeschrieben wird, ist eine fremdbestimmte Zuschreibung. Diese Zuschreibung muss nicht der tatsächlich erlebten Identität entsprechen und daher ist es von großer Bedeutung auch Kindern genau dieses Wissen zu vermitteln.


Wie bereits erwähnt ist unsere Wahrnehmung von Geschlechtsidentität, genauso wie körperlicher Verfasstheit und auch sexueller Orientierung immer noch stark von heteronormativen Sichtweisen geprägt. Diese gilt es als solche zu hinterfragen aufzuzeigen.

Kinder existieren, die trans*, inter*, nicht-binär, genderfluid u. a sind und das nicht, weil wir plötzlich neue Trends setzen wollen oder just for fun herumexperimentieren wollen:

Geschlechtsidentitäten sind nicht ausschließlich Fragen einer Wahl oder Erziehung.

Kein Mensch kann und sollte von außen einer anderen Person eine zugeschriebene Identität auferlegen. Gleichwohl wir genau das ironischerweise gegenwärtig versuchen, indem wir binäre Geschlechterordnung und Heterosexualität zur Norm deklarieren. lol.


Dabei wissen wir bislang immer noch nicht abschließend, welche Faktoren auf welche Weise bei der Herausbildung einer sexuellen Identität und damit auch einer Geschlechtsidentität eine Rolle spielen.


„Es gibt allerdings Studien und Forschung dazu, die belegen, dass wir erheblichen Einfluss auf Geschlechtsstereotypen haben. Dabei betont Ravna im Gespräch mit Magdalena,

„, dass sich Forschung noch zu sehr auf binäre Kategorien beschränkt und dabei andere Geschlechtskategorien vernachlässigt. Somit werden wiederum Erhebungen und Ergebnisse verfälscht.

Welche vielfältigen Faktoren demnach eine Rolle spielen, wie beispielsweise Genetik, Epigenetik, Erziehung, u.a.) einander bedingen und beeinflussen, lässt sich demnach nur herausfinden, indem wir zuallererst anerkennen, dass wir überhaupt zuschreiben.“


„You can not be - what you can not see“

Häufig scheinen dennoch Menschen davon auszugehen, dass die Vielfalt an Geschlechtsidentitäten eine Neue ist und scheinen deshalb auch erst einmal überfordert zu sein. Wie eingangs beschrieben reagieren sie dann häufig mit Ablehnung.

Da wir heutzutage durch vielfältige Medien mehr Möglichkeiten und Zugänge erhalten, um uns auf unterschiedlichen Eben auszutauschen und Erfahrungen miteinander zu teilen, wächst womöglich innerhalb unserer Gesellschaft ein größeres Bewusstsein, zusätzlich mehr Sichtbarkeit. Fälschlicherweise führt das bei einigen allerdings zur Annahme, dass etwas „noch nie dagewesenes“ erschaffen wurde. D

och genau das Gegenteil ist der Fall: Geschlechtliche Vielfalt existiert schon immer.

„Bedauerlicherweise beginnen wir damit bestimmte Vorstellungen und Eigenschaften zu codieren und zuzuschreiben, sobald gynäkologische Untersuchungen stattfinden.“ Ravna Marin Siever setzt genau hier an und plädiert gerade deshalb für eine geschlechtsoffene Erziehung:

„Wir sollten Kindern die Möglichkeit bieten weitestgehend frei und selbstbestimmt aufzuwachsen. Damit erhalten sie weiterhin die Chance sich selbst zu erfahren, schließlich eine eigene Identität zu entwickeln“


Demzufolge kann auch ein bewusster Umgang mit Sprache und Medien enorm Unterstützung bieten, Stereotype und Vorurteile aufzubrechen, denn unsere Welt ist vielfältig. Die Art wie wir sprechen und welche Bilder und Geschichten beispielsweise in Bücher vorkommen und erzählt werden spiegeln jedoch diese Vielfalt noch nicht ausreichend wider.


Wie oft fallen manchmal im Kita-Alltag oder in der Schule Sätze wie „Ich brauch mal paar starke Jungs beim Tragen!“ oder „Hey Mädels, habt ihr Lust auf Schminken und Verkleiden?!, oder „Ihr seid doch Jungs, könnt ihr mir mal erklären, wie dieses Gerät hier funktioniert?!“ Mal ganz abgesehen davon, dass sich auch immer Kinder darunter befinden, die sich nicht angesprochen fühlen, weil sie sie sich anders geschlechtlich identifizieren. Sie gibt es in jeder Kitagruppe und in jeder Schulklasse, wir müssen Räume schaffen, in denen sich alle sicher und gesehen fühlen.


Auch wenn diese Sätze beiläufig fallen, transportieren sie eben genau jene Eigenschaften, die wir von Anfang an festlegen und auf Kinder zuschreiben. Solche Sätze sind verletzend, führen zu Verunsicherung und Unwohlsein und verstärken damit Diskriminierungserfahrungen, festigen Stereotype und Klischees. Zusätzlich verhindern sie Selbstsicherheit und die Fähigkeit eigenen Gefühlen zu vertrauen.


Auch in Büchern schreiben sich bestimmte Rollenerwartungen weiterhin fort. Wir lesen immer noch von Prinzessinnen, die von Prinzen gerettet werden wollen. Den ganzen Tag in einem Turm hocken, während andere Abenteuer erleben dürfen. Jungs müssen stark sein, dürfen nicht weinen und keine Ängste haben. Tauchen vielfältige Geschlechtsidentitäten auf, werden sie häufig noch pathologisiert oder als Einzelfall markiert. Ausnahmen also, die die Norm bestätigen sollen.


Weiterhin sehen wir noch unzureichend vielfältige Familienkonzepte, zu wenige Schwarze Held*innen und noch immer zu wenige behinderte Charaktere, bei denen es am Ende nicht um Heilung geht.


All diese Lebensrealitäten und Erfahrungen müssen sichtbar werden. Werden sie es nicht, schreiben sich Zuschreibungen fort und halten weiterhin ein bestimmtes Machtsystem aufrecht. Kinder werden diese nach wie vor verinnerlichen und instinktiv damit anfangen an eigenen Fähigkeiten, Talenten und Gefühlen zu zweifeln.


Go with the flow!

„Wir müssen uns als Menschen die Neugierde erhalten, die wir als Kinder ja haben. Freude über das Neue, Freude über die eigene Unwissenheit. Denn alles Neue, was du erlebst, signalisiert dir, wie wenig du vorher wusstest.“ (Kübra Gümüsay)

Mit diesen wundervollen Worten von Kübra Gümüsay möchte ich nun abschließen und ebenso dazu ermutigen uns offen(er) werden zu lassen:

Gemeinsam können wir das Ziel verfolgen vorherrschende, tradierte Vorstellungen zu überdenken, offener zu gestalten und neu zu bewerten. Lasst uns versuchen Kindern Erfahrungsräume zu schaffen- jenseits von Geschlechterklischees- um sie so in ihren Fähigkeiten zu fördern und zu unterstützen. Ohne festgelegte Konzepte, ohne Erwartungen.

Wir können Kindern die Freiheit bieten ihre Geschlechtsidentität individuell auszugestalten. Dabei ist es unbedingt notwendig vielfältige Lebensweisen anzuerkennen.


Wie wir dieses Ziel verfolgen und umsetzen können?! Schnappt euch das Buch von Ravna Marin Siever „Was wird es denn? Ein Kind.“, hört euch die aktuelle Podcast Folge von sexOlogisch an und erfahrt dabei, wie eine geschlechtsoffene Erziehung gelingen kann!


Viel Spaß dabei!

 

Über Ismahan

Hi, ich bin Ismahan und lebe mit meinen beiden Zwillingen in Berlin. Ich habe lange Kulturwissenschaften studiert, dann erfolgreich abgebrochen- studiere jetzt Sozial Arbeit und durfte in den letzten Jahren immer mal wieder an verschiedensten Projekten mitwirken. Derzeit bin ich Mitglied im Betroffenenrat bei der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und habe vor Kurzem meine Weiterbildung zur Sexualpädagog*in abgeschlossen!


Meine Herzensthemen sind Sexuelle Bildung, Kinderschutz und intersektionaler Feminismus.

Ansonsten würde ich mich als witzig, zugewandt und super neugierig beschreiben. Ich bin gut darin, Menschen einfühlsam und mitfühlend zu begegnen. Wenn ich ein Kondom- oder Lecktuch/Gleitgelsorte wäre, dann würde ich immer so geschmacksneutral wie möglich wählen, weil ich´s unverfälscht und ehrlich mag.


Mein instagram-account ist: lola_oui und meine Betroffenenratsseite UBSKM diese hier:


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