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Der eigenen Lust beim Sex folgen – egoistisch oder stark?

Ein Gastbeitrag von Anna Dillinger.

Sex – zumindest der, der nicht ausschließlich mit einem selbst passiert – ist ein Miteinander, besteht aber auch aus einzelnen Personen. So wie in jeder Begegnung zwischen Menschen bleibt das Eigene das Eigene, wird dabei aber auch zu einem Uns und Miteinander. Eigene Bedürfnisse und Grenzen vermischen sich mit denen des Anderen oder der Anderen und werden je nach Erlebnis mal mehr mal weniger sichtbar und spürbar.


Ein Hin- und Her quasi, das im „Sex-Flow“ manchmal wie aufgehoben scheint – oft genug gibt es aber auch Situationen oder Spürerlebnisse beim Sex, die dabei oder im Nachhinein eben mal nicht ganz synchron waren oder „einfach so“ liefen. Und das ist ganz normal. Denn Immerhin treffen da zwei oder mehr ganz unterschiedliche Individuen aufeinander. Und die Vorstellung von der völligen Verschmelzung, den völlig gleichen Bedürfnissen und derer wortlosen Erfüllung ist ein Mythos, der sich einreiht in viele andere wie „Sex muss einfach passen“, „Lust soll immer kommen“ oder „das ist doch alles das Natürlichste der Welt!“.


Sex - die natürlichste Sache der Welt. Oder doch nicht?

Nein, das ist es eben nicht: Natürlich ist, dass jeder Mensch eine ganz eigene Sexualität entwickelt hat – und zwar von Geburt an. Was wir mögen, was wir spüren und als lustvoll erleben, ganz konkret welche Berührungen, Bewegungen und Fantasien wir geil finden ist unsere erlernte – und deswegen auch bei jedem total unterschiedliche – Sexualität und genau mit der treffen wir auch aufeinander. Das kann super harmonieren, muss es aber nicht immer oder jedes Mal. Da stellt sich die Frage: Was heißt denn nun „guter Sex“? Bedeutet es vielleicht, so viel wie möglich auf mein Gegenüber einzugehen, zu wissen und zu erfüllen, was ihm oder ihr Lust bereitet?


Es ist schön, wenn einem das Gegenüber beim Sex nicht egal ist und man sich wünscht, dass es eben beiden Spaß macht. Ein Weg aber, das genau NICHT zu erreichen, ist oft, im Kopf ganz und gar bei der anderen Person zu sein, ständig nachzufragen ob es „eh passt“ oder „gerade gut ist“ oder – und jetzt wird es noch komplizierter – überhaupt selbst nur noch in Fahrt und in die Lust zu kommen, wenn das Gegenüber seine Erregung und Lust ganz deutlich zeigt, sie einem quasi für die eigene Erregung zur Verfügung stellt. Versteht mich nicht falsch: Kommunikation beim Sex muss nichts Schlechtes sein. Äußern oder zeigen zu können, dass etwas sich gerade nicht gut anfühlt oder auch mal etwas einzufordern heißt auch, dass man Verantwortung für sich übernimmt und nichts blödes „aushält“. Wenn der Sex aber zu einem Abfrage-Katalog wird und beide nur auf den jeweils Anderen achten, dann ist jeder Einzelne vor allem: nicht bei sich selbst und letztendlich nicht im Miteinander.


Gemeinsam Sex haben und dennoch bei sich sein - geht das überhaupt?

Aber was heißt das jetzt: Bei sich sein beim Sex? Ist das nicht ganz schön egoistisch und soll nur die eigenen Bedürfnisse befriedigen? Egoismus hat allerdings auch seine guten Seiten und gerade im Lust-Kontext treten die ganz deutlich hervor. Sich selbst gut spüren zu können heißt auch, den Körper das machen zu lassen, was sich gut und geil anfühlt. Es heißt, die eigene Lust – das Kribbeln, Ziehen, was auch immer – im Penis, Vulva und Vagina wahrzunehmen, darauf zu reagieren und sie anderen Personen zeigen zu können. Alles tolle Skills! Kommt da jetzt aber permanent der Kopf dazwischen, der einem einflüstert: „Nimm dich zurück und schaue ganz genau, ob du das jetzt auch so machst, dass die andere Person es gut findet“ – dann wird man davon ziemlich abgelenkt. Und die eigene Lust reagiert mit Rückzug.


Für ganz viele Menschen hingegen ist es wahnsinnig attraktiv, wenn sie die Lust des/der Anderen mitbekommen. Wenn sie spüren: Wow, er/sie fühlt sich gerade richtig gut und macht einfach das, was er/sie gerade will. Und das geht: Tun, was man will – und dabei trotzdem die Reaktion des Sex-Gegenübers mitbekommen, darauf zu reagieren und nicht „rücksichtslos“ zu sein. Aber ein kleinen Stückchen Rücksichtslosigkeit braucht es eben auch, sonst wird Sex zum gegenseitigen Wünsche-Erfüllen und ist keine wirklich gemeinsame Aktivität mehr. Und der Grundstein dafür ist eben: die eigene Lust. Von der darf man ausgehen, die kann man selbst am besten spüren, und die darf Grundlage sein für das gemeinsame Sex Erlebnis. Hat man das Gefühl, sie gar nicht richtig zu kennen oder zu wissen, was damit überhaupt gemeint ist, lohnt es sich, auf die Suche zu gehen: Vielleicht am besten erst mal mit sich selbst oder auch mit Hilfe von Außen, z.B. in einer Sexualberatung oder – therapie.


Eine gute Balance zu finden zwischen „Bei mir sein“, unabhängig zu sein vom Anderen, und auf der anderen Seite in Verbindungen treten zu können oder gar in Nähe zu „verschmelzen“, spielt auch im Leben und den Beziehungen darin eine große Rolle. Es ist spannend, sich mal dabei zu beobachten: Kann ich mich auf dieser Skala bewegen oder bin ich oft vor allem auf der einen Seite? Und beim Sex wie im Leben gilt: Mit viel Spielraum und einem guten Gespür für sich selbst macht es einfach mehr Spaß!


Über Anna Dillinger

Anna Dillinger ist psychologische Beraterin, arbeitet als Sexualpädagogin mit Kindern, Jugendlichen oder Menschen mit Beeinträchtigung und berät als Sexualberaterin i.A. Erwachsene in ihrer Praxis. Sowohl die Arbeit in Workshops und Seminaren mit Gruppen, als auch Beratung im Einzel- oder Paarsetting machen ihr wahnsinnig Spaß und zeigen jedes Mal wieder aufs Neue, wie wichtig und entlastend es ist, über das Thema Sex offen, ohne einengende Moralvorstellungen und auf Augenhöhe miteinander zu sprechen. Mehr über sie gibt es auf www.anna-dillinger.at oder auf ihrer FB-Page: https://www.facebook.com/AnnaDillingerBeratung



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