Text zur Podcast-Folge 63, verfasst von Cleo Libro.
Trigger-Warnung: Tod eines Säuglings; Beschreibung von tiefer Trauer
Die 63. Ausgabe des sexOlogisch Podcast dreht sich um ein Thema, das in der öffentlichen Wahrnehmung noch sehr unterrepräsentiert ist – der schmerzliche Verlust des eigenen Kindes.
Magdalena und ihre Gesprächspartnerin Melissa sind sich einig, es wird völlig zu Unrecht ein Bogen um die Thematisierung von Trauer in Verbindung mit Sexualität und Elternschaft gemacht. Daher betreibt Melissa auf Social Media einfühlsame und unerschrockene Aufklärungsarbeit. Denn im August 2020 ist sie selbst zur Sternenmama geworden, als ihre Tochter wenige Stunden nach ihrer Geburt unerwartet verstarb.
Post mortem wurde bei Melissas Baby ein schwerer Herzfehler festgestellt, der auslöste, dass die Kleine nicht selbstständig atmen konnte. Bereits kurz nach der Geburt verschlechterte sich der Zustand von Melissas Tochter zusehends und schneller als die frisch gebackenen Eltern es tatsächlich fassen konnten, sahen sie sich vor die schwerste aller Entscheidungen gestellt. Den Versuch zu wagen, das Leben ihres Kindes künstlich zu verlängern, wobei schwerste Behinderungen in Kauf genommen werden müssten. Oder „die kleine Seele wieder fliegen zu lassen“, wie Melissa es selbst beschreibt. Trotzdem die Situation und ihre Emotionen sie überforderten, stand für sie und ihren Partner sehr schnell fest, dass sie ihr Baby schweren Herzens wieder gehen lassen würden.
Wie die Trauer Melissas Sexualität verändert
„Unsere ganze Welt hat sich verändert“, erzählt Melissa und berichtet, dass sie parallel zu ihrem akuten Trauerprozess auch ihr Wochenbett durchleben musste, ohne diesem deshalb die notwendige Beachtung schenken zu können. Sie empfand ihre Geburtsverletzungen als physische Realisierung ihrer emotionalen Schmerzen, ausgelöst durch den Verlust ihrer Tochter. Melissa verband seit dem Tag der Geburt ihren Intimbereich nicht mehr mit Lust und Sexualität. Stattdessen betrachtete sie ihre Intimsphäre dadurch verletzt, dass plötzlich viele fremde Menschen (das medizinische Personal) diesen Bereich besetzt hatten, der eigentlich das „Tor zur Welt“ für ein Kind gewesen war, das dort nun schmerzlich vermisst wurde. Dieser Umstand löste einen Bruch in Melissas sexuellem und geschlechtlichem Selbstverständnis aus, der vor allem eins nachhaltig negativ beeinflusste: Ihre Lust auf Sex und die Nähe zu ihrem Partner.
Sternenelternschaft ist ein großes gesellschaftliches Tabu, in dessen Mitte sich ein weiteres findet. Noch seltener als der Verlust eines Kindes wird öffentlich besprochen, wie sich dadurch die Sexualität des betreffenden Paares verändert. Für Melissa und ihren Partner hat sich in ihrem Privat- und Sexualleben alles auf den Kopf gestellt. Berührungen ihres Mannes zuzulassen oder sogar zu genießen, war schwierig für Melissa. Betrachtete sie ihren Körper doch nur noch als Schutzraum für die vermisste Tochter, weshalb sie kein Bedürfnis mehr danach verspürte, von ihrem Partner als anziehend oder begehrenswert wahrgenommen zu werden. Kurz gesagt, Melissa wollte sich nicht mehr als sexy verstehen, ihre körperliche und seelische Verletzung war zu groß. Sex diente ihrem Verständnis nach plötzlich nur noch zum Zweck der Reproduktion und nicht mehr dem Spüren geteilter Intimität.
Melissas Mann ging es ähnlich, berichtet sie. Er habe auch lange kein Bedürfnis danach verspürt, ihre Paarsexualität wieder aufzunehmen. Beide erklären sich das als Schutzreaktion von Körper und Psyche auf eine alles mitreißende Trauer. Und wer sich selbst nicht spüren kann oder will, der*die kann auch nicht wirklich Lust empfinden. Die Dynamiken zwischen den Sternenelternteilen können allerdings stark voneinander abweichen. Melissa beobachtete unter den Paaren in ihrem Rückbildungskurs für Eltern, die ihr Kind verloren hatten, dass die Väter häufig anders trauerten als die Mütter. Andere Sternenmamas berichteten ihr davon, dass ihre Partner den Verlust des gemeinsamen Kindes anders verarbeiteten und bereits wieder das Verlangen nach Sex spüren würden. Doch trotz dieses deutlichen Ungleichgewichts der Bedürfnisse rät Melissa, sich niemals zu Sex überreden zu lassen, wenn man noch nicht wieder bereit dafür ist. Ihre Devise: „Nimm dir alle Zeit, die brauchst! Denn Sexualität kommt mit der Heilung.“
Wie man sich wieder näherkommen kann
Überhaupt sei eine der größten Herausforderungen für eine Sternenmama, sich selbst wieder spüren zu können. Therapie kann dabei hilfreich sein, aber in jedem Fall benötigt dieser Prozess viel Zeit, berichtet Melissa. Aber wie genau konnte sie die tiefen Verletzungen soweit überwinden, dass sie wieder Nähe zulassen, genießen und sogar lustvoll erleben konnte? Melissas Partner hat ihr das Verständnis entgegengebracht, das sie brauchte, ohne sie dabei unter Druck zu setzen. Außerdem haben die beiden eine Trauerbegleitung für Paare in Anspruch genommen, die Ratschläge für den Trauerprozess bereithielt.
Darüber hinaus hat es Melissa sehr geholfen, mit ihrem Mann ganz neu in die Kommunikation über ihre gemeinsame Sexualität zu treten und erneut zu verhandeln, was wieder willkommen ist und was sich für sie noch zu viel anfühlte. Melissa betont hierbei, was sie humorvoll als positiven Egoismus beschreibt: Die eigenen Bedürfnisse zu beachten, zu kommunizieren und kompromisslos Grenzen für sich selbst zu setzen.
Letztlich kamen Melissa und ihr Partner sich auf eine sehr liebevolle Art und Weise wieder näher. Sie fühlte sich von ihm beschützt, gehalten und nach dieser erschütternden Erfahrung von ihm in ihrer Weiblichkeit ganz anders wahrgenommen. Für Melissa war es essenziell, sich sicher fühlen und darauf vertrauen können, dass ihr Partner achtsam und rücksichtsvoll mit ihrem Körper und den Emotionen umgeht, die die gemeinsame Nähe und Intimität auslösen können. Diese Rückversicherung, dass all ihre Gefühle existieren und gefühlt werden dürfen, hat ihr sehr geholfen. Ebenso wie ihre verstärkte Achtsamkeit und Liebe ihr selbst gegenüber.
Melissa macht Mut und lädt zum Gespräch ein
Melissas Rat an andere Sterneneltern: „Die Sinnsuche und Hoffnung eures Lebens müssen neu geschöpft werden, was Zeit und Kraft kostet. Sucht euch Unterstützung in eurem Umfeld und von professioneller Seite.“
Doch da diese leider noch Mangelware sei, ist eine Folge von Melissas intensiver Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Situation, dass sie eine Ausbildung begonnen hat, um ihre neue große Vision umzusetzen: Melissa möchte ein Frauenzentrum gründen, das ganzheitliche Gesundheit in den Fokus setzt und wo anderen Sternenmüttern geholfen werden soll, wieder zu sich selbst zu finden und in die Stärke der eigenen Weiblichkeit hineinzuwachsen.
Melissa möchte Sterneneltern Mut machen und rät: „Versucht die Liebe eures Sternenkinds zu fühlen.“ Von den Menschen im Umfeld von Eltern, die ein Kind verloren haben, wünscht sie sich einen offenen und angstfreien Dialog. Sie ruft auf, persönliche Erfahrungen in alle Räume zu tragen, sodass eine Enttabuisierung und Sensibilisierung in Bezug auf das Thema Sternenkinder in unserer Gesellschaft stattfinden kann. Selbst wenn dieser Dialog traurig und emotional wird, heißt sie alle Gefühle willkommen: „Auch Trostspendende, die für mich stark sein wollen, dürfen mit mir oder vor mir ihre Trauer ausdrücken. Ich kann auch andere Tränen trocknen.“
Hi, ich bin Melissa, bin 31 Jahre jung, habe eine abgeschlossene Marketingausbildung, durfte 2 wundervolle Jahre meines Lebens in Florida verbringen und dort für Disney arbeiten, wo ich auch meinen Partner kennengelernt habe. Wir kommen beide aus Frankfurt am Main und sind gemeinsam wieder zurückgekehrt. Wer hätte damals gedacht, dass wir im August 2020 unsere Tochter, Aleyna, auf dieser Welt begrüßen dürfen? Sie machte uns innerhalb von 2 Stunden zu sogenannten Sterneneltern, was mich nach der ersten, sehr akuten Trauerphase dazu bewegt hat, nochmals Soziale Arbeit zu studieren. Ich folge seither meinem „Calling“ und bilde mich weiter, um Frauen nach Fehlgeburten, kleinen/stillen Geburten oder späterem Kindsverlust begleiten zu dürfen. Es ist zu meinem Herzensthema geworden, über sämtliche Tabus rund um das Thema „Kindsverlust“ zu sprechen, sowie andere Sterneneltern zu begleiten. Ich bin eher extrovertiert, extrem emphatisch, hilfsbereit, lebensfroh, begeisterungsfähig und habe eine motivierende, natürliche Wirkung auf Andere! Wenn Du auch betroffen bist oder Menschen in Deinem Umfeld, dann lass dich auf diese Reise mit mir ein - Instagram: melissaswonderworld Ich freue mich von Herzen auf Dich!
Über Cleo Libro
Im Frühling 2018 kam Cleo zur Welt, als ich mir diesen Namen gab, um zum ersten Mal in einem Podcast über meine offene Beziehung zu sprechen. Mit den Jahren gesellten sich weitere Themen zu meinem regelmäßigen Tabu-Kaffeeklatsch: Weibliche Sexualität, Dating, Masturbation, Konsens und weiteres aus dem Bereich „Lust und Frust einer promisken Frau.“
Seit Januar 2021 existiert mein Blog Cleographie, wo ich meine in Schrift gefassten Gedanken und Erfahrungen zu Non-Monogamy, Zwischenmenschlichkeit und Feminismen veröffentliche. Eine Bauchidee, die stetig zu einem Herzprojekt heranwuchs, weil sie meine Begeisterung für Sprache, Schriftmedien und Sexualität vereint.
Kommunizieren komplettiert mich. Neues lernen fasziniert mich. Schreiben ist mein Versuch etwas von dieser Energie weiterzugeben.
Insta: @cleo.libro
Beschreibe dich in 3 Worten: mitteilsam, mitfühlend, mitreißend
Worin bist du besonders gut: Genießen und mich für etwas begeistern
Was sind deine absoluten Herzensthemen: Alternative Beziehungskonzepte, Kommunikation, Selbstbestimmung und generell alles Zwischenmenschliche oder Sexuelle, das tabuisiert wird.
Welche Kondomsorte wärst du und warum?
Ich wäre ein Kondom von Releaf, weil es super nice riecht/schmeckt, angenehme Haptik und Feuchtigkeit hat und für meine Anwendung ein neuer Baum gepflanzt würde. Außerdem hätte mein Hersteller dann einen guten Humor: Ich sag nur, „Forst pflanzen anstatt fortpflanzen“, hihi.
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