Artikel zur Folge 37 - "Genitale Vielfalt" des sexOlogisch Podcast
verfasst von Kaspar Felix Käding
(Bild von @Vielma.art)
Genitale Vielfalt – mit diesem Begriff wird nicht jeder Mensch etwas anfangen können. Wieso auch Vielfalt, gibt es nicht einfach Männer, die einen Penis, und Frauen, die eine Vagina haben? Das wird uns durch das binäre Geschlechtsmodell gerne vermittelt, aber – Surprise! – es ist nun mal gar nicht so. Was hier vergessen wird, sind intergeschlechtliche Menschen, deren Genitalien nicht in diesem binären Sinn ausgeprägt sein müssen.
Das andere, das uns gerne vermittelt wird, ist die Vorstellung, dass es eine Norm gibt, wie ein Genital auszusehen hat. Das führt schnell zu Unsicherheiten und Fragen wie: Sind meine Vulvalippen normal? Ist die Farbe normal, die Größe, der Geruch? Ist mein Penis normal groß? Was nicht vermittelt wird, ist die einzige wirkliche Wahrheit im Bereich Genitalien, wie Stefanie Grübl es auf den Punkt bringt: „Vielfalt ist normal. Vielfalt ist die einzige Norm, die wir Menschen haben.“
Sexuelle Bildung zum Anfassen
Und genau das ist es, was Stefanie mit ihren* handgefertigten Materialien darstellen möchte: die schier unendliche Vielfalt in der Ausprägung unserer Geschlechtsorgane. Sie stellt Anschauungsmaterial in Form von Modellen aus Kunststoff oder Gips sowie in Form von Bilderkarten her, damit Sexualpädagog*innen – aber auch alle anderen, die sich beruflich mit dem Thema Sexualität und Sexuelle Bildung befassen – mit ihnen arbeiten können. Genitale Vielfalt zum wortwörtlich Anfassen: Haptisches Lernen werde in diesem Bereich noch viel zu wenig angewendet, meint Stefanie – von Vielfalt in der Darstellung der Genitalien ganz zu schweigen.
Stefanie ist mit ihrem* Unternehmen Vielma – Vielfältige Materialien inzwischen selbstständig und gilt als Vorreiter*in im Bereich Anschauungsmaterial für Sexuelle Bildung. Vielma ist eines der ersten Unternehmen, das überhaupt haptisches Material in Form von Modellen anbietet, und zudem eines der wenigen, das dabei genitale Vielfalt sichtbar macht – und das mit Erfolg: Stefanie verschickt inzwischen Pakete nach ganz Europa, Amerika und sogar Australien.
Geschlecht ist nicht binär
Wann immer ein Baby geboren wird, lautet intuitiv die erste Frage: "Ist es ein Junge oder ein Mädchen?" Nicht nur die Eltern, sondern auch das medizinische Personal kommen ins Stutzen, wenn das Neugeborene nicht das zwischen den Beinen hat, was sie erwarten. Unser Bildungssystem ist nicht darauf ausgelegt, mehr als die binären Optionen Mann und Frau zu vermitteln – was dazu führt, dass jegliche Abweichung davon als abnorm gilt.
Dabei ist Intergeschlechtlichkeit (das Aufweisen sowohl „männlicher“ als auch „weiblicher“ Geschlechtsmerkmale – das können Genitalien, Hormone und Chromosomen sein) eine schon immer bestehende Variante menschlicher Geschlechtlichkeit. Stefanie setzt sich mit Vielma dafür ein, dass diese Tatsache nicht wegignoriert wird, indem sie nicht nur binäre Geschlechtsmodelle herstellt, sondern auch intergeschlechtliche.
Warum ist das aber so wichtig? Gehen wir zurück zur Situation des neugeborenen Kindes, das keine eindeutigen binären Geschlechtsmerkmale aufweist: Dadurch, dass Intergeschlechtlichkeit in der sexuellen Bildung mehr als stiefmütterlich behandelt wird, ist das in der Regel erst einmal ein Schock für die Eltern und das medizinische Personal. Würde das Phänomen Intergeschlechtlichkeit hingegen in jeglichen Formen sexueller Bildung als selbstverständliche weitere Normvariante gelehrt werden (z. B. in der Schulbildung, in medizinischen Fachbüchern und in Geburtsvorbereitungskursen), gäbe es diese Situation der Überforderung nicht und intergeschlechtliche Menschen würden nicht als abnorm behandelt werden.
Keine Vulva gleicht einer anderen
Doch nicht nur intergeschlechtliche Menschen leiden unter der fehlenden Vielfalt in genitalen Darstellungen. Auch endogeschlechtliche Menschen (Menschen, deren Körper sich nach medizinischen Normen eindeutig als „männlich“ oder „weiblich“ einordnen lassen) sind in den verbreiteten Modellen nur bruchstückweise abgebildet. Warum das nun? Na ja, weil es gar kein allgemeingültiges Modell eines Genitals geben kann, da auch endogeschlechtliche Genitalien eine unfassbar große Bandbreite an Vielfalt aufweisen.
Als ein Beispiel, das in besonders veranschaulicht, wie dringend notwendig das Darstellen genitaler Vielfalt ist, nennt Stefanie eine persönliche Erfahrung mit Gynäkolog*innen. Gynäkolog*innen sind in ihrem Beruf tagtäglich mit Vulven und Vaginen konfrontiert, kein anderes Berufsfeld beschäftigt sich in diesem Maß mit „weiblichen“ Genitalien. Und trotzdem (!) ist es laut Stefanies Erfahrung keine Seltenheit, dass Gynäkolog*innen nicht bewusst ist, wie unterschiedlich Vulven aussehen können: Stefanie berichtet von völliger Überforderung, wenn sie* ihre* vielfältigen Geschlechtsmodelle präsentiert. Dies verdeutlicht: Damit genitale Vielfalt mehr wahrgenommen wird, muss dafür sensibilisiert werden. Und das geschieht durch: Sichtbarmachen ebendieser Vielfalt.
Es gibt weder eine Normvulva noch einen Normpenis. Keine Vulva gleicht vollkommen einer anderen, genauso wie keine zwei Penisse exakt gleich ausgeprägt sind. Wieso ist dieser Gedanke für uns so schwer greifbar? Niemanden wird es überraschen, dass keine Nase, kein Bauchnabel und kein Ohr zweimal auf exakt dieselbe Weise existieren – da sollte es doch nur selbstverständlich sein, dass auch unsere Genitalien derart vielfältig sind.
Scham, Angst und Kapitalismus
Die Verbreitung dieses Irrglaubens, dass es eine Norm gibt, wie Genitalien auszusehen haben, ist schädlicher, als einem im ersten Moment vielleicht bewusst ist. Dabei sind es natürliche menschliche Prozesse, die hier ablaufen, indem man sich fragt: „Entspreche ich der Norm?“ Der schädliche Denkansatz, der vermittelt wird, ist: „Wenn du nicht der Norm entsprichst, bist du minderwertig. Dein Penis ist nicht besonders groß? Deine inneren Vulvalippen sind größer als die äußeren? Dann: Schäm dich.“ Wir leben in einer Gesellschaft, in der es für jegliche äußere Merkmale Schönheitsideale gibt – da ist es nicht überraschend, dass dies auch für Genitalien gilt.
Und wie in anderen Bereichen des Körpers gibt es auch im Intimbereich eine Lobby, die davon profitiert: die Intimchirurgie. Der Kapitalismus setzt sich auch hier durch und generiert aus der Scham der Menschen und aus ihrer Angst, nicht normal zu sein, Geld. Magdalena schlussfolgert: „Solange Menschen mit dieser Angst, mit dieser Scham Geld verdienen, hab ich leider sehr wenig Hoffnung, dass sich das mal komplett ändert […] Kapitalismus und Konsum werden dadurch getrieben, dass Menschen sich als nicht vollständig, nicht okay, nicht normal erleben.“ Die Lösung: Den Menschen durch sexuelle Bildung vermitteln, dass sie sich für ihre Genitalien niemals schämen müssen.
Dabei darf jedoch nicht verwechselt werden: Wer seinen Körper nach den eigenen Wünschen selbstbestimmt gestalten und verändern möchte, soll das natürlich nach Belieben tun! Was zu kritisieren ist, ist, wenn Menschen durch Scham dazu gedrängt werden. Will man den eigenen Körper nur verändern, weil man denkt: „Nur dann werde ich angenommen, nur dann gelte ich als attraktiv“, wäre der Ansatz nicht, in einen kostenaufwendigen und aller Wahrscheinlichkeit nach schmerzhaften chirurgischen Eingriff zu investieren, sondern sich dafür einzusetzen, dass vermittelt wird: Du bist okay, wie du bist. Du bist normal, denn es gibt keine Norm, der du entsprechen musst.
Vielfalt ist die einzige Norm
Und die Moral von der Geschicht‘? „Vielfalt ist normal. Vielfalt ist die einzige Norm, die wir Menschen haben. Und es ist wichtig, Vielfalt auf unterschiedliche Arten sichtbar und begreifbar zu machen, weil das eine Chance bietet, dass sich die Menschen wiedererkennen und in Kontakt treten können mit dem, was wir ihnen vermitteln wollen, wo wir sie unterstützen wollen, wo wir ihnen Informationen anbieten.“ Danke, Stefanie, für diese schönen Schlussworte.
Über Kaspar Felix Käding
Hi, ich bin Kaspar (er/ihn) und freue mich riesig, Teil des sexOlogisch-Blogs zu werden! Ich bin 25 Jahre alt, befinde mich in den Endzügen meines Literaturstudiums im schönen Mainz und bin beruflich überall da beheimatet, wo es um Sprachrichtigkeit und Schreiben geht. Im Mai 2021 habe ich mich als trans geoutet und führe seitdem einen Blog über meine Transition und Genderqueerness allgemein. 🏳️⚧️ Sowohl mit meiner Genderidentität als auch mit meiner Sexualität habe ich viel gestruggelt, daher ist es mir ein besonderes Anliegen, Aufklärungsarbeit zu diesen Themen zu leisten. Wenn ich nicht gerade schreibe oder lese, denke ich mir neue Titel für meinen kleinen Hund, Seine Flauschigkeit und Majestät Sir Emil von und zu Tischbein II., aus oder probe als Bassist für ein Musical im mittel- und rheinhessischen Raum.
Worin ich besonders gut bin: Hunde Streicheln, auf Twitter Shitposten, und na ja, hoffentlich auch Schreiben und komplexe Themen niederschwellig Aufbereiten ;)
Meine Herzensthemen: Genderqueerness, Gendernonkonformität, Bi-/Pansexualität, A-/Demisexualität, queerer Sex, (Queer-)Feminismus, queere Repräsentation in Literatur, Filmen und Serien
Ich als Kondomsorte: Eins mit LGBTQ+-Pride-Farben/Motiv, weil jeder Sex mit mir automatisch queer ist, hehe 🏳️🌈
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